Gnade- Gedanken einer Märchenkönigin
Von Inge Jung (c)
An guten Tagen sprach er
die Wahrheit, an schlechten log er, das trügerische Ding. Niemand wusste um
ihn, niemand hätte im Entferntesten annehmen können, welch magische Kraft er
besaß. Sie wusste es. Hatte es vom ersten Moment an gewusst.
Er hatte die Macht, Leben zu verändern. Neues entstehen zu lassen, Altes zu vernichten. Aber nicht nur das, er konnte es auslöschen, tilgen. So wie ein Name getilgt werden konnte, so wie die Seele selbst.
Es ließ ihr keine Ruhe.
Sie betrachtete die Oberfläche, die so vollkommen war, wie niemals die Hand
eines Meisters etwas erschaffen konnte. Der Glanz darin zeigte das nicht-
irdische, Übernatürlichkeit umgab ihn wie eine Aura.
Wie gesagt, an manchen war die Aura göttlich, an anderen diabolisch. Auch dies war den guten und schlechten Tagen zuzuordnen.
Sein Enthüllen war ein festlicher Akt, das Darbringen eines Opfers, ihres Opfers, indem sie sich ihm gegenüberstellte. Sie hielt der Prüfung stand, gleichwohl es sie ab und an solche Überwindung kostete, dass sie körperlich an den Rand dessen kam, was aushaltbar war. Hitze übermannte sie, Zittern und Beben, Angst, bis zur innerlichen Raserei, die niemals nach außen durchdrang. Der Schmerz des Aushaltens, und die darauffolgende Erschöpfung, waren ihr Tribut den sie zollte, den sie gerne gab, um von ihm nur ein wenig zu erfahren.
Von ihm, der sie beinahe
ihr ganzes Leben lang begleitete. Der schon lange da war, einfach in ihr Leben
getreten. Nach Verletzungen, gefühlten Unzulänglichkeiten und Verlust.
Da war er gekommen.
In all seiner Schönheit
und Pracht. Er stand einfach da. Mitten in ihrem Leben, im übertragenen Sinn.
Und im tatsächlichen. Sie liebte und sie hasste ihn. War aber von ihm abhängig.
In ihrer Sucht nach ihm war ihr alles egal. Sie nahm seine Demütigungen hin,
sein Lob, auch seine Ignoranz, gerade dann, wenn sie am verzweifeltsten
bettelte. Um der Wahrheit genüge zu tun, war es ein Winseln. Alles ertrug sie.
Noch nie hatte sie daran
gedacht, ihn aus ihrem Leben zu entfernen. Das wäre nicht möglich gewesen.
Weder mental, noch faktisch. Er gehörte zu ihr. Es erfüllte sie einerseits mit
Stolz, andererseits wusste sie um die zerstörerische Macht, die ihr ganzes Sein
in ihren Klauen hielt. Und sie selbst konnte nichts dagegen tun.
Die Frage war, ob sie etwas dagegen tun wollte. Früher, als die Tage noch länger waren, hatte sie ein paar halblebige Versuche unternommen um aus seinem Leben zu treten. Denn es konnte ohnehin nur so sein, dass sie sich davonstahl. Er war da. Ein Monument, eine Gabe der Zeit, die diesen Wimpernschlag in der Unendlichkeit, ihr eigenes Leben, bei ihr war. Was vorher war, oder danach sein würde, wusste niemand. Sie auch nicht.
Sie hatten ihn, sowie ihren Hass auf das Schöne in der Welt. So auch auf andere Wesen, egal ob Mensch ob Tier. Nichts war ihr ebenbürtig, nichts mit ihr auf eine Stufe zu stellen. Es gab ihn, und es gab sie. Das musste genügen. Ihr genügte es, warum nicht auch anderen.
Hinter dicken Mauern war
diese abstruse Symbiose geborgen. Niemand wagte es, sich ihr zu nähern, war er
unverhüllt. Niemand wagte es, sich ihr zu nähern, ob verhüllt oder nicht. Ihr
Geist war immer verhüllt. Eingehüllt in das Universum des Seins, in dem Er
Alpha und Omega war. In dem er Ra, Osiris oder Tutanchamun war. Er war alles.
Sie auch, trotzdem war er
mehr. Das war eine seltsame Beschreibung für ihn, aber sie konnte es nicht in
Worte fassen.
Musste man etwas Unfassbares
in Worte fassen? War es nicht in diesem Fall das Beste, wort-los zu sein? Bar
jeden Wortes, das es hier in dieser Realität gab? Keines beschrieb ihn, keines
sie. Hier fehlte ein Wort, um das Mysterium zu erklären, das hinter allem
stand. Das Unbeschreibliche, das sich über sie legte einem Leichentuch gleich,
an dem Tag, da er in ihr Leben trat.
Ein Leichentuch oder
Schnee, der leise auf Gräber fällt. Ganz so, als sei er die gesandte Gnade.
War er ihre Gnade?
War es Gnade, vor ihm im
Staub zu liegen an schlechten Tagen, wenn er log und ihr grausame, schlimme
Dinge sagte?
Oder war es Gnade, wenn er
eisig schwieg, obwohl seine Präsenz so präsent war, wie sie durch greifbare
Anwesenheit nicht materialistischer hätte sein können? Wenn sie flehte und sich
wand, er möge ihr Antworten geben und die glatte Oberfläche ihr Hohn entgegen
schwieg?
All diese Gedanken hatte
sie an die tausend Mal schon gedacht, die Gedankenspiralen hatten sich in den
Jahren in ihre Gehirnwindungen gefräst. Für anderes war kaum Platz, kaum Zeit,
sie hatte ihn und die Gedanken um ihn. Das war sie, das machte sie aus. Mehr
war sie nicht.
Eine Hülle, die die Gnade
bekam, sich mit ihrem Gegenüber zu vereinigen, eins zu werden mit dem, was sie
sah. Was er aus ihr machte, mit ihr machte.
Sie wusste nur eines, das
würde sie begleiten bis zu ihrem Tod, egal was dann kam. Denn das was er sagte
und zeigte, würde hierbleiben, musste in der funktionalen Welt vergehen. Zu
Staub und Erde werden.
Sie musste sich nur mit
ihm und mit sich selbst auseinandersetzen. Denn das wusste sie: im Spiegel
begegnen wir nur uns.