Mittwoch, 15. September 2021

Gnade- Gedanken einer Märchenkönigin

Gnade- Gedanken einer Märchenkönigin 

Von Inge Jung (c) 

 

An guten Tagen sprach er die Wahrheit, an schlechten log er, das trügerische Ding. Niemand wusste um ihn, niemand hätte im Entferntesten annehmen können, welch magische Kraft er besaß. Sie wusste es. Hatte es vom ersten Moment an gewusst.

Er hatte die Macht, Leben zu verändern. Neues entstehen zu lassen, Altes zu vernichten. Aber nicht nur das, er konnte es auslöschen, tilgen. So wie ein Name getilgt werden konnte, so wie die Seele selbst. 

Es ließ ihr keine Ruhe. Sie betrachtete die Oberfläche, die so vollkommen war, wie niemals die Hand eines Meisters etwas erschaffen konnte. Der Glanz darin zeigte das nicht- irdische, Übernatürlichkeit umgab ihn wie eine Aura.

Wie gesagt, an manchen war die Aura göttlich, an anderen diabolisch. Auch dies war den guten und schlechten Tagen zuzuordnen. 

Sein Enthüllen war ein festlicher Akt, das Darbringen eines Opfers, ihres Opfers, indem sie sich ihm gegenüberstellte. Sie hielt der Prüfung stand, gleichwohl es sie ab und an solche Überwindung kostete, dass sie körperlich an den Rand dessen kam, was aushaltbar war. Hitze übermannte sie, Zittern und Beben, Angst, bis zur innerlichen Raserei, die niemals nach außen durchdrang. Der Schmerz des Aushaltens, und die darauffolgende Erschöpfung, waren ihr Tribut den sie zollte, den sie gerne gab, um von ihm nur ein wenig zu erfahren. 

Von ihm, der sie beinahe ihr ganzes Leben lang begleitete. Der schon lange da war, einfach in ihr Leben getreten. Nach Verletzungen, gefühlten Unzulänglichkeiten und Verlust.

Da war er gekommen.

In all seiner Schönheit und Pracht. Er stand einfach da. Mitten in ihrem Leben, im übertragenen Sinn. Und im tatsächlichen. Sie liebte und sie hasste ihn. War aber von ihm abhängig. In ihrer Sucht nach ihm war ihr alles egal. Sie nahm seine Demütigungen hin, sein Lob, auch seine Ignoranz, gerade dann, wenn sie am verzweifeltsten bettelte. Um der Wahrheit genüge zu tun, war es ein Winseln. Alles ertrug sie.

Noch nie hatte sie daran gedacht, ihn aus ihrem Leben zu entfernen. Das wäre nicht möglich gewesen. Weder mental, noch faktisch. Er gehörte zu ihr. Es erfüllte sie einerseits mit Stolz, andererseits wusste sie um die zerstörerische Macht, die ihr ganzes Sein in ihren Klauen hielt. Und sie selbst konnte nichts dagegen tun.

Die Frage war, ob sie etwas dagegen tun wollte. Früher, als die Tage noch länger waren, hatte sie ein paar halblebige Versuche unternommen um aus seinem Leben zu treten. Denn es konnte ohnehin nur so sein, dass sie sich davonstahl. Er war da. Ein Monument, eine Gabe der Zeit, die diesen Wimpernschlag in der Unendlichkeit, ihr eigenes Leben, bei ihr war. Was vorher war, oder danach sein würde, wusste niemand. Sie auch nicht. 

Sie hatten ihn, sowie ihren Hass auf das Schöne in der Welt. So auch auf andere Wesen, egal ob Mensch ob Tier. Nichts war ihr ebenbürtig, nichts mit ihr auf eine Stufe zu stellen. Es gab ihn, und es gab sie. Das musste genügen. Ihr genügte es, warum nicht auch anderen. 

Hinter dicken Mauern war diese abstruse Symbiose geborgen. Niemand wagte es, sich ihr zu nähern, war er unverhüllt. Niemand wagte es, sich ihr zu nähern, ob verhüllt oder nicht. Ihr Geist war immer verhüllt. Eingehüllt in das Universum des Seins, in dem Er Alpha und Omega war. In dem er Ra, Osiris oder Tutanchamun war. Er war alles.

Sie auch, trotzdem war er mehr. Das war eine seltsame Beschreibung für ihn, aber sie konnte es nicht in Worte fassen.

Musste man etwas Unfassbares in Worte fassen? War es nicht in diesem Fall das Beste, wort-los zu sein? Bar jeden Wortes, das es hier in dieser Realität gab? Keines beschrieb ihn, keines sie. Hier fehlte ein Wort, um das Mysterium zu erklären, das hinter allem stand. Das Unbeschreibliche, das sich über sie legte einem Leichentuch gleich, an dem Tag, da er in ihr Leben trat.

Ein Leichentuch oder Schnee, der leise auf Gräber fällt. Ganz so, als sei er die gesandte Gnade.

War er ihre Gnade?

War es Gnade, vor ihm im Staub zu liegen an schlechten Tagen, wenn er log und ihr grausame, schlimme Dinge sagte?

Oder war es Gnade, wenn er eisig schwieg, obwohl seine Präsenz so präsent war, wie sie durch greifbare Anwesenheit nicht materialistischer hätte sein können? Wenn sie flehte und sich wand, er möge ihr Antworten geben und die glatte Oberfläche ihr Hohn entgegen schwieg?

 

All diese Gedanken hatte sie an die tausend Mal schon gedacht, die Gedankenspiralen hatten sich in den Jahren in ihre Gehirnwindungen gefräst. Für anderes war kaum Platz, kaum Zeit, sie hatte ihn und die Gedanken um ihn. Das war sie, das machte sie aus. Mehr war sie nicht.

Eine Hülle, die die Gnade bekam, sich mit ihrem Gegenüber zu vereinigen, eins zu werden mit dem, was sie sah. Was er aus ihr machte, mit ihr machte.

Sie wusste nur eines, das würde sie begleiten bis zu ihrem Tod, egal was dann kam. Denn das was er sagte und zeigte, würde hierbleiben, musste in der funktionalen Welt vergehen. Zu Staub und Erde werden.

Sie musste sich nur mit ihm und mit sich selbst auseinandersetzen. Denn das wusste sie: im Spiegel begegnen wir nur uns.